38

Der Staatsanwalt Johannsen war so freundlich, mich anzurufen, bevor die Nachricht bekannt wurde.

»Sheila Carmichael will einen Antrag auf Wiedereröffnung von Jeffs Fall stellen, mit der Begründung, dass Sie als vermeintliches Opfer an der Ermittlung beteiligt waren«, sagte er mir.

»Was?« Ich war sprachlos. »Ich war kein Opfer. Jeff ist ein Freund meines Sohnes, nicht mein Sohn.«

»Sie behauptet, dass Sie, da Sie eine ›Vertraute‹ von ihm waren – sie definiert ›Freundin der Familie‹ als Vertraute – mit mehr Energie gegen ihren Mandanten und Bruder Wilbur ermittelt haben, als Sie es sonst getan hätten. Erhöht war, glaube ich, das Wort, das sie in dem Antrag benutzte.«

»O Gott.«

»Anscheinend fand sie irgendeinen obskuren alten Fall, bei dem das Urteil tatsächlich aufgehoben wurde, weil ein Polizist, der diesen speziellen Fall bearbeitete, mit einigen Verrenkungen auch als Opfer betrachtet werden konnte. Die zitierte Stellungnahme beklagte exzessive Motivation von Seiten des Ermittlers.«

»Aber das ändert doch überhaupt nichts. Ich war schon lange bevor Jeff mit hineingezogen wurde mit allem, was ich hatte, an diesem Fall dran.«

»Das weiß ich. Aber bei solchen Schwerverbrechen sind die Gerichte in geradezu absurder Weise vorsichtig.«

»Besteht eine Chance, dass das Urteil aufgehoben wird?«

»Nicht alle Urteile.«

»Was soll dann das Ganze?«

»Das ist ein Verhandlungstrick.«

»Was kann sie denn für ihn noch herausschlagen?«

»Sein Leben.«

Darauf fiel mir nichts mehr ein.

»Ich vermute, dass der Richter die Sache für genauso verrückt halten wird wie wir«, sagte Johannsen. »Aber wer weiß.«

»Wann wird das bekannt gegeben?«

»Sie wird den Antrag erst in ein paar Tagen einreichen – sie meinte, sie lasse es mich nur aus Höflichkeit vorab wissen.«

»Scheint mir ziemlich unsinnig zu sein – man sollte doch meinen, es wäre besser, Sie zu überraschen, Sie unvorbereitet zu treffen.«

»Tante Sheila mag Konflikte, glaube ich. Und sie hat gern das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen.«

Ich hatte Pete Moskal versprochen, dass ich ihn über alle Entwicklungen bezüglich Durand auf dem Laufenden halten würde. Der Commonwealth von Massachusetts hatte, in Anbetracht des Todesurteils gegen den Angeklagten, keine Auslieferung beantragt. Ich lag die ganze Nacht wach und dachte darüber nach, was Johannsen mir mitgeteilt hatte – was für eine Farce wäre es doch, wenn Durand davonkäme. Ich würde es als persönliche Tragödie betrachten, wenn er nicht gegrillt würde.

Als das erste dünne Licht durch die Jalousien sickerte, hatte ich beschlossen, mit dem Anruf bei Moskal noch zu warten; ich wollte erst einmal sehen, wie sich die Dinge entwickelten.

An diesem Tag ging ich ins Revier, was ich schon eine ganze Weile nicht getan hatte. Die Abteilung hatte mich bis auf weiteres auf verminderte Dienstbereitschaft gesetzt, aber Fred hatte mir gesagt, dass es egal sei, ob ich auftauchte oder nicht – meinen Gehaltsscheck würde ich trotzdem bekommen. Es war beinahe schwieriger, wegzubleiben als hinzugehen, ich vermisste den Laden und die beständige Geschäftigkeit. Anscheinend vermisste der Laden mich auch, denn als ich durch die Tür trat, wurde ich von allen Seiten sehr herzlich begrüßt.

Nachdem ungefähr zwei Tonnen Nettigkeiten ausgetauscht waren, kehrten meine Kollegen in ihre eigene, mehr oder weniger heile Welt zurück. Alle bis auf Spence und Escobar.

»Wie geht’s, Lany?«, fragte Escobar mit echter Besorgnis. »Du siehst ein wenig müde aus.«

Ich hatte mich heute Morgen im Spiegel gesehen. Ein wenig müde war ein Kompliment. »Nicht so gut, Ben. Ich habe gestern Abend einen Anruf von Johannsen erhalten.« Ich erzählte ihnen, was er gesagt hatte.

»Scheiße«, bemerkte Spence.

»Verdammt«, sagte Escobar.

»Ja, das wäre wirklich beschissen.«

Zu dritt saßen wir eine Weile in düsterem Schweigen da, bis ich zu Spence sagte: »Hör zu, ich glaube, ich würde Jesse Garamond gern einen kleinen Besuch abstatten. Was meinst du?«

Er starrte mich verständnislos an.

»Ich glaube, es ist Zeit, dass wir ihn da rausholen.«

»Lany, er ist ein böser Bursche. Lass es sein.«

»Ich will wenigstens mit ihm reden.«

Er schien unsicher, war aber schließlich bereit mitzukommen.

»Okay, aber es gefällt mir nicht.«

Wir fuhren dieselbe Route zum Gefängnis. Als wir uns der Anschlagtafel näherten, auf der ich zum ersten Mal das triefende Plakat für Sie essen dort kleine Kinder gesehen hatte, schloss ich die Augen, bis ich sicher war, dass wir es hinter uns gelassen hatten. Es klebte inzwischen bestimmt ein anderes Plakat dort, aber meine Augen würden die Wirklichkeit missachten und stattdessen sehen, was sie damals gesehen hatten. Und das hätte ich nicht ertragen können.

Spence hatte seine Waffe dabei, aber meine steckte in Freds Schreibtischschublade, wohin er sie gelegt hatte, als er sie mir abnahm. »Bei verminderter Dienstbereitschaft brauchen Sie die nicht«, hatte er gesagt. Anfangs hatte ich sie vermisst, doch nach einer Weile lernte ich das wiederhergestellte Gleichgewicht schätzen. Ich ging aufrechter und fühlte mich leichter. Die eine Hüfte knickte nicht mehr ein. Meine Rückenschmerzen verschwanden, weil ich das Gewicht der Waffe nicht mehr ausgleichen musste. Sie würde in der Schublade bleiben, bis ich meinen regulären Dienst wieder aufnahm. So kamen wir viel schneller durch die Eingangskontrolle, was mich sehr freute. Sie achteten nicht auf die Latexhandschuhe, die ich in meine Handtasche gesteckt hatte, weil man damit niemanden umbringen kann, außer man stopft sie ihm in die Kehle.

Kurz vor der Zelle drehte ich mich zu Spence um. »Ich will alleine mit ihm reden.«

Er blieb unvermittelt stehen und starrte mich an. »Ich halte das nicht für eine gute Idee. Er ist kein besonders netter Kerl.«

»Das geht schon. Ich will nur ein paar Minuten mit ihm.«

»Warum, um Himmels willen?«

»Spence, bitte. Du musst mir den Gefallen tun. Und ich will nicht, dass du unser Gespräch mithörst, für den Fall, dass du je danach gefragt wirst.«

Er blieb stur.

»Bitte«, wiederholte ich.

Schließlich sagte er widerstrebend: »Okay.«

 

Ich schickte Pete Moskal zwei Artikel aus der Los Angeles Times, die ich beide mit Gummihandschuhen ausgeschnitten hatte. Sie waren im Abstand von etwa einem Monat erschienen. Den neutralen Umschlag, in den ich sie gesteckt hatte, befeuchtete ich mit einem Schwamm und benutzte eine selbstklebende Briefmarke. Ich schrieb auch keinen Absender auf den Umschlag. Der erste lautete:

Der verurteilte Serienmörder Wilbur Durand wurde gestern am späten Abend tot in seiner Zelle im Los Angeles County Correctional Institution gefunden; er war offensichtlich einem Mord zum Opfer gefallen. Durand, früher ein bekannter Hollywood-Produzent und Special-Effects-Experte, saß seit letztem Jahr dort ein, nachdem man ihn des heimtückischen Mordes, der Entführung und der Vergewaltigung von Minderjährigen in den Fällen der Ermordung von Earl Jackson, 12, und der Entführung und Vergewaltigung von Jeffrey Samuels, 13, sowie in zahlreichen anderen Fällen für schuldig befunden hatte. Die Anwältin Sheila Carmichael, die außerdem seine Schwester ist, war eben dabei, einen Antrag auf Wiedereröffnung des Samuels-Falls zu stellen. Dabei berief sie sich auf einen obskuren Präzedenzfall, in dem es um die Beteiligung eines Opfers an der Ermittlung in einem Verbrechen ging. Samuels ist ein enger Freund des Sohnes der Polizeibeamtin Lorraine Dunbar, deren beharrliche Ermittlungen in einer Reihe von scheinbar unzusammenhängenden Fällen des Verschwindens kleiner Kinder letztendlich zur Verhaftung und Verurteilung Durands geführt hatten.

Nach Angaben einer ungenannten Gefängnisquelle wurde Durand mehrfach in den Bauch gestochen und dann ausgeweidet. Die Gefängnisverwaltung hat keinen Verdächtigen für dieses Verbrechen und gibt an, dass die Gefängnisinsassen in Bezug auf diesen Vorfall ungewöhnlich schweigsam seien. »Wenn so etwas passiert, gibt es normalerweise immer mindestens einen, der bereit ist, uns Informationen zu liefern«, sagte der stellvertretende Direktor. »Aber bis jetzt sagt keiner etwas über diesen Fall. Wir haben keine Hinweise, keine materiellen Indizien und im Augenblick auch keinen Verdächtigen.«

Das alles wusste Moskal. Aber der zweite Artikel war von der nationalen Presse vielleicht nicht aufgegriffen worden, und ich wollte, dass er die beiden zusammen las. Der zweite lautete:

Heute wurde auf Befehl des Appellationsgerichts Jesse Garamond aus dem Los Angeles County Correctional Institute entlassen. Er wurde vor drei Jahren wegen des Mordes an seinem Neffen verurteilt, welcher nachträglich jedoch als ein Opfer von Wilbur Durand, der vor kurzem in diesem Gefängnis starb, identifiziert wurde. Garamonds Verurteilung war insofern ungewöhnlich, als die Leiche seines Neffen nie gefunden wurde. Der Staatsanwalt James Johannsen gibt an, dass die Turnschuhe, die in Durands Studio gefunden wurden, von der Mutter des Kindes eindeutig als ihrem Sohn gehörend identifiziert wurden. Sie befanden sich in einer Kiste mit mehreren anderen Schuhpaaren, die Durand als Souvenirs seiner Opfer aufbewahrte. Ausgehend von diesem Beweisstück, beantragte Johannsen Garamonds Freilassung in Erwartung eines neuen Verfahrens, bei dem die Anklage aller Wahrscheinlichkeit nach fallen gelassen wird. Zur Zeit seiner Verurteilung wegen des Mordes an seinem Neffen war Garamond nur unter Bewährung frei, nachdem er eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen Belästigung eines Kindes verbüßt hatte, ein Fall, der mit Durands Taten nicht in Verbindung gebracht werden konnte.

 

So bekam Pete Moskal Wilbur Durand doch zurück. Er holte seinen Sarg am Logan Airport ab.

 

Als wir das letzte Mal an dieser Stelle am Santa Monica Pier gestanden hatten, hatten Errol Erkinnen und ich drei sehr glücklichen Jungs beim Herumtollen im Sand zugesehen und ihr ausgelassenes Lärmen gehört. Ich hatte ihm erzählt, wie gerne mein Sohn Evan hierher kam. Diesmal war nur das sanfte Rauschen der Brandung und die vereinzelten Schreie der Seemöwen zu hören, aber wenn ich meine Augen schloss und den Kopf leer machte, konnte ich mir vorstellen, wie Evan mit seinen zwei Schwestern auf dem Strand spielte.

Ich lächelte und ließ mein Gesicht von der Sonne liebkosen. Doc, der immer aufmerksame Beobachter, sah es.

»Es ist schön, Sie lächeln zu sehen«, sagte er. »Ein echter Fortschritt. Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass dieser Tag kommen würde?«

»Ja, das haben Sie.«

»Und dass danach noch bessere Tage kommen.«

»Ich schätze, Sie hatten Recht.«

»He, deshalb haben sie mir ja die dicke Kohle bezahlt.«

Er hatte sich als Polizeipsychologe beurlauben lassen, um ein Buch zu schreiben. Der Vorschuss war so hoch gewesen, dass er ihn über ein ganzes Jahr brachte. Ich befürchte allerdings, dass es ein Abschied für immer war; er würde wohl nicht zurückkommen.

Ich nahm seine Hand und drückte sie. »Ich möchte Ihnen danken, für alles, was Sie getan haben, um mir durch diese schwere Zeit zu helfen.«

Er zwinkerte mir zu. »Hab doch nur meine Arbeit gemacht«, sagte er. »Oder das, was mal meine Arbeit war. Was für eine Welt – wer hätte gedacht, dass es so ausgehen würde.«

Das Geräusch der Brandung war beruhigend. »Wissen Sie, eigentlich habe ich gar nicht geglaubt, dass Jesse Garamond es tun würde. Er ist ein Mistkerl, aber er war nie ein Killer. Zumindest war er es vor dieser Sache nicht. Ich geb’s zwar nicht gern zu, aber ich bin wirklich froh, dass er es getan hat.«

»Vielleicht war Garamond kein Killer, aber ich schätze, er war immer ein Überlebenskünstler. Ich halte es übrigens nicht für so schlimm, dass Sie Durand leiden lassen wollten.«

Er hatte wirklich gelitten. Es war mehr passiert, als in den Zeitungen gestanden hatte. Durand hatte das »Ding« durchlitten, das andere Gefangene mit Kindermördern anstellten. Garamond hatte diese Idee selbst zur Sprache gebracht; ich hatte nur von ihm verlangt, dass er, egal was er tat, zuerst versuchte, etwas über den Verbleib der Leichen herauszufinden. Er wäre zwar auf jeden Fall nach einer gewissen Zeit freigekommen, aber wir konnten das Verfahren doch beträchtlich beschleunigen. Und Jesse wollte Rache, denn es war Wilbur Durands Verbrechen gewesen, das ihn während seiner Bewährungszeit wieder ins Gefängnis gebracht hatte. Diese Rache hatte er nun bekommen.

Doc kannte nicht alle Details, es gab zwischen uns die unausgesprochene Vereinbarung, dass ich ihm nur sagte, was ich mir von der Seele reden wollte. Ich glaube nicht, dass er wirklich in allen Einzelheiten wissen wollte, was passiert war.

»Man hat noch eine Leiche gefunden«, sagte ich. »Damit sind es bis jetzt neun.«

Letztendlich würden wir alle finden und sie ihren Familien zurückgeben, und das nur dank der Informationen, die Jesse Garamond aus ihm herausgeholt hatte, während er ihm das Messer ans Gemächt hielt.

Plötzlich tauchte am nördlichen Rand des Horizonts ein Kondor auf. Er stieß auf das Ende des Piers herab und landete auf einem Pfahl. Der Vogel schlug mit den Flügeln und stieg dann wieder in den sonnenhellen Himmel. Ich dachte an den Phönix, die mythologische Darstellung unserer Sehnsucht nach Vollkommenheit, die eine absolute Illusion ist. Unerreichbar sogar für Wilbur Durand.

Die Schreckenskammer
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